Auslandssemester

Auslandssemester: Lost and found in Newcastle

Mein Empfang zu Beginn meines Auslandssemesters in Newcastle-upon-Tyne war kühl. Anfang Februar 1996 stand ich in einem kleinen, kahlen Zimmer in einem Studentenwohnheim, und die Heizung funktionierte nicht. Nur mit Mühe verstand ich die Ratschläge meiner britischen Mitbewohnerinnen, mich an den Hausmeister zu wenden. Auch dessen Erklärungen waren für mich größtenteils unverständlich. Doch am nächsten Tag lief die Heizung. Wie sich herausstellte, springt sie erst in der darauffolgenden Nacht an, nachdem man sie zum ersten Mal angestellt hat.
Diese kleine Begebenheit ist symptomatisch für die Erfahrungen, die ich während meines Auslandssemesters in Großbritannien machte. Es hakte an so mancher Stelle, weil es zum Teil deutliche Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland gibt. Aber letztlich ließen sich alle Probleme überwinden: manchmal durch Dazulernen, manchmal durch Versuch und Irrtum, manchmal mit Hilfe. Im Nachhinein blicke ich auf tolle, prägende fünf Monate zurück – auch heute noch, obwohl mein Aufenthalt inzwischen ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Ich bin an dem Auslandssemester gewachsen und habe wichtige Erfahrungen gesammelt, an die sich seitdem viele weitere Erfahrungen angeschlossen haben.

Entschluss fürs Auslandssemester stand früh fest

„Ich gehe nach England, um dort zu studieren.“ Kaum hatte ich 1993 mein Anglistikstudium an der Ruhr-Universität Bochum begonnen, lernte ich eine ältere Kommilitonin kennen, die sich gerade um ein Stipendium bewarb. Fortan war für mich klar, dass ich dies ebenfalls versuchen würde, sobald mein Grundstudium abgeschlossen war.
Studiert man heute eine Fremdsprache in Deutschland, ist ein mindestens sechswöchiger Auslandsaufenthalt Pflicht. Diese Regel, die mit dem Bologna-Abkommen 1999 eingeführt wurde, gab es zu meiner Zeit als Studentin noch nicht. Ein Auslandssemester war nicht vorgesehen, sondern freiwillig. Deswegen machte es auch fast niemand.
Als das Ende meines Grundstudiums abzusehen war, bewarb ich mich mit Erfolg um ein Stipendium beim Erasmus-Programm, einem Förderprogramm der Europäischen Union. Ich erhielt die Zusage, ein Semester in Großbritannien studieren zu können. Newcastle-upon-Tyne sollte es sein – eine Stadt im Nordosten Englands, von der ich noch nie gehört hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten mich zwei Urlaube in Großbritannien nur nach Südengland geführt.

rotes Backsteingebäude

Newcastle mit seinen damals etwa 210.000 Einwohnern ist wie meine Heimatstadt Bochum eine ehemalige Industriestadt, die durch den Bergbau geprägt wurde. „To carry coals to Newcastle“ ist die britische Variante des Sprichworts „Eulen nach Athen tragen“. Von dieser traditionsreichen Historie war Mitte der 1990er Jahre nichts mehr zu sehen. Stattdessen begann wie im Ruhrgebiet der Strukturwandel, der dazu geführt hat, dass Newcastle heute als kosmopolitische Metropole gilt.
Für mich bedeutete mein Aufenthalt in der nordenglischen Stadt einen persönlichen Wandel. Schlagartig war sehr viel mehr Eigenständigkeit von mir verlangt. 1996 war das Internet tatsächlich Neuland. An der Newcastle University, die damals noch University of Newcastle hieß, legte ich mir meine erste E-Mail-Adresse zu, kannte aber praktisch niemandem, der ebenfalls eine hatte und dem ich hätte schreiben können. Der Kontakt nach Hause war ausschließlich per Festnetztelefon und Brief möglich.

Sprache durch Auslandsaufenthalt verbessert

Viele Dinge des alltäglichen und universitären Lebens – von der scheinbar defekten Heizung über die Schwierigkeit, mich einer Friseurin gegenüber verständlich zu machen, bis zu zahlreichen bürokratischen Formalitäten – musste ich allein klären oder konnte höchstens meine Mitbewohnerinnen um Hilfe bitten. Da sie aus fünf unterschiedlichen Regionen Englands stammten und somit fünf unterschiedliche Dialekte sprachen, war die Verständigung vor allem zu Beginn jedoch erschwert. Noch größer war die Herausforderung in den Anfangstagen, wenn ich in Newcastle unterwegs war, denn der lokale Dialekt, „Geordie“ genannt, ist auch für Briten nicht leicht zu verstehen. Positiver Effekt dieser „babylonischen Sprachverwirrung“ war, dass ich bis zum Ende meines Auslandssemesters mein Hörverständnis der englischen Sprache erheblich verbessern konnte.
Es ist ein Klischee, dass ein längerer Auslandsaufenthalt den Horizont erweitert, aber an vielen Klischees ist auch etwas Wahres dran. An der Newcastle University mit ihren damals mehr als 11.000 Studenten begegnete ich nicht nur Studenten und Dozenten aus ganz Großbritannien, sondern weiteren Austauschstudenten, die aus der ganzen Welt stammten. Zudem bot mir meine Zeit in England sowohl die Gelegenheit, die britische Insel besser kennenzulernen, als auch die Chance, meine Heimat Deutschland aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Das war manchmal eine gewichtige Erkenntnis, zum Beispiel wie unterschiedlich das Thema Videoüberwachung betrachtet wurde. Manchmal war es nur ein kleines Detail, etwa dass man sich per Handzeichen bemerkbar machen muss, wenn der Bus an der Haltestelle halten soll.

Große Unterschiede gab es beim Unisystem. In Newcastle besuchte ich viel weniger Kurse als in Deutschland, hatte aber ein ungleich umfangreicheres Lesepensum zu bewältigen. Wenn ich gedacht hätte, dass ich ein laues Studentenleben führen könnte, hatte ich mich getäuscht. Ich musste mich wesentlich mehr selbst organisieren, als ich es gewohnt war, um am Ende des Semesters gut auf die Abschlussklausuren vorbereitet zu sein.
Selbstverständlich kam das Vergnügen trotzdem nicht zu kurz. Newcastle erwies sich als idealer Ausgangspunkt, um eigenständig andere Regionen in Nordengland und Schottland zu bereisen. Auch hier galt es, zu planen, mich zu organisieren und meine frisch erworbenen Kenntnisse in Sachen Internet und E-Mail zu nutzen.
Sehr glücklich war ich vor meiner Rückkehr nach Deutschland, dass sich, wie von mir erhofft, meine Sprachkenntnisse und Aussprache verbessert hatten. Ich freute mich sehr über das Kompliment meiner britischen Mitbewohnerinnen, dass ich nun keinen typisch deutschen Akzent mehr hätte.
Seitdem arbeite ich daran, dass dies so bleibt. Ich erhalte meine Englischkenntnisse gezielt aufrecht: privat durch Lektüre und englischsprachige Filme, ehrenamtlich in einer Konversationsgruppe und gelegentlich habe ich auch beruflich dazu die Gelegenheit.